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Da mit den Goth-Bands der profitabelste Programmpunkt des Abends erst für einen späteren Zeitpunkt angesetzt war, sahen die Leute noch ziemlich normal aus, die zu dieser frühen Stunde den Markt bevölkerten. Es gab zwar PVC und Vinyl, dicke, klobige Stiefel und jede Menge Schwarz überall, aber es waren auch viele Paare und junge Leute anzutreffen, die in kleinen Gruppen umherspazierten und sich kichernd die diversen Kuriositäten ansahen.
Außerdem waren noch zahlreiche Familien da, obwohl der Zutritt zu einigen fragwürdigeren Attraktionen erst ab zwölf Jahren erlaubt war.
Es wurde überwiegend Tschechisch, Deutsch und Französisch gesprochen, hier und da auch ein bisschen Englisch, was Christians Aussage bestätigte, dass Gäste aus ganz Europa zur Halloweenfeier angereist waren.
Ich ging zu einem Stand, an dem ein Schild hing mit einer großen blauen Hand und einem goldenen Mannaz - einem der Runenzeichen, die in der Wahrsagerei verwendet wurden. Zu meiner Erleichterung war der Stand nebenan - Tanyas Tarofkartenstand - nicht besetzt. Ich hatte zwar keine Angst davor, ihr zu begegnen, legte es aber auch nicht unbedingt darauf an, noch einmal mit ihr aneinanderzugeraten.
Ich vermutete, dass Tanya losgezogen war, um jemanden zu verhexen oder Warzen für einen Liebestrank zu zermahlen, was mir nur recht war.
Arielle saß an einem niedrigen Tisch, auf dem die übliche Mond-und-Sterne-Tischdecke lag, wie man sie in vielen okkultistischen Läden fand, und las einer blonden Frau von Anfang zwanzig aus der Hand.
„Deine Lebenslinie ist sehr lang und ausgeprägt.
Das ist immer ein gutes Zeichen“, erklärte sie der Frau auf Deutsch. Sie lächelte dem Mann scheu zu, der hinter der Frau stand. „Du hast nur eine Bindungslinie.“
Die blonde Frau kicherte und drehte sich mit kokettem Blick zu ihrem Begleiter um.
„Deine Herzlinie läuft mit der Kopflinie zusammen, was bedeutet, dass dein Herz in Liebesdingen sehr stark von deinem Verstand kontrolliert wird.“
Die Frau lächelte zufrieden. Ich winkte Arielle kurz zu und stellte mich hinter dem Paar an. Was ich bisher gehört hatte, war der übliche Standard - Verallgemeinerungen und vage Erklärungen, die dem Kunden ein gutes Gefühl gaben.
„Du hast eine ganz kurze Schicksalslinie. Das bedeutet, dass das Schicksal keinen allzu großen Einfluss auf dein Leben hat. Das ist gut, weißt du? Das heißt, du hast dein Leben selbst unter Kontrolle.“
„Oh ja, sehr gut“, freute sich die Frau, der offenbar immer besser gefiel, was Arielle sagte. „Ich habe gern alles unter Kontrolle.“
Ihr Begleiter schnaubte zustimmend. Sie ignorierte ihn jedoch und schaute gespannt auf ihre Handfläche. Arielle zeigte auf eine Erhebung. „Dein kleiner Marsberg deutet auf Aggressivität hin, aber dein großer Marsberg lässt Selbstbeherrschung erkennen.
Manchmal würdest du zwar am liebsten alle aus dem Weg schubsen, aber du hast dich unter Kontrolle.“
Die Frau nickte zu allem, was ihr gesagt wurde, und legte konzentriert die Stirn in Falten, als Arielle auf ihre Fingerkuppen zeigte und erklärte, dass man daran ablesen könne, was für ein kreativer und künstlerisch begabter Mensch sie war. Fünf Minuten später beendete Arielle die Sitzung mit der Prophezeiung, dass die Frau zwei Kinder bekommen, viel Glück in ihrem langen Leben haben und außerdem viel reisen würde. Die Deutsche bezahlte begeistert und steckte Arielle ein paar hundert Kronen Trinkgeld zu, bevor sie mit ihrem Freund davonging, der sich irgendetwas piercen lassen wollte. (Nasenflügel? Brustwarzen? Meine Deutschkenntnisse reichten für Piercing-Fachgespräche nicht aus.)
„Guten Abend, Joy“, begrüßte mich Arielle. „Wie geht es deinem Kopf?“
„Schon viel besser. Ich möchte dich bitten, für mich eine Runendeutung zu machen, aber vorher ...“ Ich biss mir auf die Unterlippe und sah mich um.
Zum Glück gab es hier, am Ende der Budengasse, noch keine langen Schlangen und wir waren unter uns. „Kannst du mir vielleicht sagen, wo Raphael ist?“
Sie zwinkerte mir verschwörerisch zu. „Er sieht sehr gut aus, nicht wahr?“
Ich merkte, wie ich rot wurde. Hoffentlich konnte Arielle in dem diffusen Licht der Glühbirnen über unseren Köpfen nicht sehen, dass ich geradezu jungfräulich errötete. „Ah ... kann man so sagen. Weißt du, wo er ist?“
Sie antwortete mit diesem vielsagenden Schulterzucken, das offenbar nur die Franzosen beherrschten.
„Leider nein. Er schaut normalerweise immer bei mir rein, bevor Dominics Show beginnt. Dann muss er nämlich im Hauptzelt aufpassen. Ansonsten spaziert er kreuz und quer über den Markt und sorgt für Ordnung.“
„Aha. Okay. Dann halte ich einfach weiter nach ihm Ausschau.“ Ich zeigte auf den Samtbeutel, der am Tischende lag. „Würdest du eine Deutung für mich machen?“
„Mit Vergnügen“, antwortete sie und legte ein rot-gold gemustertes Tuch auf den Tisch. „Ich mache das allerdings noch nicht lange und bin noch nicht so gut darin.“
„Kein Problem. Um ehrlich zu sein, will ich mir nur ein bisschen die Zeit vertreiben, bis Roxy und Christian von der Streckbank kommen.“
Arielle hielt inne, während sie in den Beutel griff.
„Von der Streckbank?“
„Ach, nicht wichtig. Mach nur weiter, ich wollte dich nicht unterbrechen.“
Sie verteilte die glänzenden schwarzen Hämatitsteine, die mit goldenen Runen bemalt waren, auf dem Tuch und fragte mich in professionellem Plauderton, ob dies mein erstes Runenorakel sei, doch dann hielt sie plötzlich inne und sagte mit normaler Stimme:
„Oh, aber Roxy hat ja gesagt, du beschäftigst dich auch damit. Bitte verzeih mir, ich wollte dich nicht beleidigen.“
„Hast du auch nicht“, versicherte ich ihr.
Arielle setzte wieder eine professionelle Miene auf und bat mich, an die Frage zu denken, die ich beantwortet haben wollte.
„Konzentriere dich bitte ganz auf diese Frage und wähle fünf Steine aus!“
Ich betrachtete die Steine auf dem Tisch. Dieses Verfahren kannte ich zwar nicht, doch man lernt ja immer gerne dazu. Also schloss ich die Augen und griff fünf Steine heraus.
„Sehr schön“, sagte Arielle und warf die restlichen Steine wieder in den Beutel. Dann ordnete sie die fünf, die ich gewählt hatte, in Kreuzform an. „Ich lege jetzt das Kreuz des Thor für dich.“
Ich nickte. Eigentlich bevorzugte ich den aus neun Steinen zusammengesetzten Hammer Odins - je größer, desto besser! doch auf diesem Markt wollte man den Besuchern wahrscheinlich schnelle, unkomplizierte Antworten auf ihre Fragen mitgeben.
„Der erste Stein ist Dagaz und er steht für die Gegenwart. Dagaz bedeutet Tageslicht oder göttliches Licht. Es ist die Rune der Morgendämmerung oder des Mittags und weist auf Erleuchtung hin.“
„Ah, Erleuchtung.“ Ich fühlte mich zwar alles andere als erleuchtet von der vagen Interpretation des Steins, aber bevor ich fragen konnte, was wohl die genauere Bedeutung war, ging Arielle bereits zum nächsten Stein über.
Sie hakte auch die restlichen Steine rasch der Reihe nach ab und machte Aussagen zu meiner Vergangenheit und Zukunft sowie zu den Hindernissen und Hilfen auf meinem Weg, natürlich immer in Bezug auf meine Frage. Es war alles sehr positiv, sehr unspezifisch und komplett uninspiriert. Als sie fertig war, vergewisserte ich mich mit einem Blick über die Schulter, dass hinter mir niemand wartete, bevor ich sagte: „Ich hoffe, du bist nicht beleidigt, wenn ich dir das sage, aber mir ist aufgefallen, dass du nur die Standardinterpretationen der Runen verwendest.“
„Ja“, gab sie zu und sah mich niedergeschlagen an.
„Tut mir leid, aber ich bin nicht besonders gut darin.
Claude, unser Handleser, hat das immer gemacht und war sehr, sehr gut. Er hat mir das Handlesen auch beigebracht. Von den Runen verstehe ich nicht so viel, aber weil das so beliebt ist ... „ Sie zuckte wieder mit den Schultern.
„Du bist gar nicht so schlecht“, beruhigte ich sie, denn ich wollte nun wirklich nicht ihre Gefühle verletzen. „Und ich bin alles andere als eine Expertin, aber in dem Buch, das ich dazu gelesen habe, stand, dass man eine Sitzung immer ganz persönlich gestalten sollte. Laut diesem Buch kann jeder, sogar ein Computer, Standardinterpretationen bringen, doch die wirkliche Kraft, die in einer Sitzung liegt, kommt von der Person, die die Runen deutet - das sagt das Buch, nicht ich, denn ich glaube gar nicht an ... äh ... egal!“
„Aha, ja, verstehe.“ Arielle wirkte verwirrt. „Was meinst du mit persönlich? Ich frage die Leute ja nicht nach ihrem Problem, wie kann ich dann persönlich werden?“
Ich dachte nach. „Nun, ich habe mich bei meinen Versuchen immer bemüht, hinter die Standardinterpretationen zu schauen und die Bedeutung der Steine als eine Art Hilfe zur Selbsthilfe zu verwenden. Zum Beispiel der erste Stein hier, Dagaz, das ist nicht nur der Stein des Tageslichts und der Erleuchtung, sondern er deutet auch auf einen Durchbruch hin, auf eine große Veränderung, eine Erkenntnis, wenn du so willst. Auf seiner Position, die für die Gegenwart steht, weist er darauf hin, dass die betreffende Person an einem Punkt angekommen ist, an dem es kein Zurück mehr gibt. Das Element der Erleuchtung kommt ins Spiel, weil das Licht die Dunkelheit vertreibt. Im Zusammenhang mit den anderen Steinen“, ich zeigte auf das Kreuz, „würde ich das so interpretieren, dass für den oder die Betreffende ein neues Kapitel im Leben beginnt. Die Seiten sind zwar noch leer, aber sie wollen beschrieben werden. Mit anderen Worten ist das eine Art positive Verstärkung. Man wird dazu ermuntert, den Stier bei den Hörnern zu packen und das Beste aus seinem Leben zu machen.“
„Das ist sehr interessant. Und wie interpretierst du diesen Stein?“ Sie tippte auf den Stein, der für die Kräfte stand, die gegen einen gerichtet sind, und bei dessen Deutung sie am meisten ins Schleudern gekommen war.
„Mannaz, in umgekehrter Position - kein guter Stein in dieser Position, hm?“
Ich grinste Arielle an.
Sie reagierte mit einem zaghaften Lächeln.
„Okay, also, ich würde diese Rune als Warnung sehen, nicht so sehr um sich selbst zu kreisen und die Gefühle anderer nicht zu ignorieren. Dieser Stein bedeutet, dass sich so ziemlich alle gegen einen gerichtet haben. Er sagt, dass die Vorlieben und Meinungen, die einen zu dem machen, was man ist, manchen Leuten nicht in den Kram passen. Auf der Position des Hindernisses erinnert er einen also daran, dass man Verantwortung für das eigene Handeln übernehmen muss, aber diejenigen, die man für unterlegen hält, nicht unterschätzen sollte, denn sonst bringen sie einen schließlich zu Fall.“
„Oh, das ist so wahr“, hauchte Arielle mit großen Augen. „Du bist sehr gut darin. Machst du das schon lange?“
Ich lachte, sammelte die fünf Hämatitsteine auf und gab sie ihr. „In der Öffentlichkeit habe ich das nur einmal gemacht und das ist nicht besonders gut gelaufen.“
„Du solltest das beruflich machen“, drängte sie. „Du hast diese Kraft in dir, das spüre ich. Du hast wirklich Talent. Nicht jeder ist mit dieser Gabe gesegnet.“
„Nun, ich sehe weit und breit niemanden, der mich dafür bezahlen würde“, sagte ich bescheiden, weil ich nicht wollte, dass sie Roxys unausgegorene und zum Glück in Vergessenheit geratene Idee wieder aufbrachte, auf dem Gothic-Markt zu arbeiten. „Um ehrlich zu sein, sehe ich in den Runen eher ein Mittel zur Selbsterkenntnis und glaube nicht so sehr an ihre Macht. Und so viel weiß ich auch gar nicht darüber.“
„Das ist ziemlich offensichtlich“, ertönte es pampig hinter mir.
„Hallo, Tanya!“ Ich stand auf und lächelte die Frau mit dem bösen Blick an.
„Findest du keine Rinder mehr, die du unfruchtbar machen kannst?“
Ich konnte sehen, dass sie an meinen Worten zu knabbern hatte, und als sie damit fertig war, spuckte sie mich an. Wirklich und wahrhaftig! Ich musste rasch zur Seite springen, um nicht getroffen zu werden.
„Was hast du nur für Manieren“, schimpfte ich. Hinter Tanya sah ich Roxy und Christian näher kommen, doch als Roxy Tanya entdeckte, hüpfte sie wie eine Gazelle davon und Christian folgte ihr gemesseneren Schrittes. „Spucken und Herumpöbeln in der Öffentlichkeit, andere Leute die Treppe runterschubsen ... Ts, ts, ts. Was kommt als Nächstes? Nasebohren? Vor aller Augen im Schritt kratzen?“
Arielle sprang auf, packte ihre Schwester am Arm und redete leise, aber eindringlich auf sie ein. Das schien jedoch nicht viel zu nützen, denn Tanya schob sie fort und trat mit geballten Fäusten und blitzenden Augen auf mich zu. Als Arielle das sah, eilte sie davon. Ich hoffte, sie würde Hilfe holen, und ich gab zu, dass ich betete, sie möge in Gestalt eines eins fünfundneunzig großen Mannes mit bernsteinfarbenen Augen eintreffen.
„Du bist hier nicht erwünscht!“
Ich zog meine Eintrittskarte aus der Tasche und zeigte sie Tanya. „Bin ich wohl.“
„Du hast meine Geduld einmal zu oft auf die Probe gestellt, connasse!“
Mein Französisch war nicht besonders gut, aber sogar ich wusste, was dieses Wort bedeutete, und es war alles andere als schmeichelhaft. Mir war nicht mehr nach Lächeln zumute, doch ich zog tapfer die Mundwinkel hoch. Ich würde mich auf keinen Fall wieder in eine Auseinandersetzung hineinziehen lassen. Wenn sie merkte, dass sie mich nicht provozieren konnte, würde sie mich schon in Ruhe lassen.
„Du glaubst, du bist vor mir sicher, aber das bist du nicht!
Dominic wird dich nicht mehr beschützen, wenn er dein wahres Gesicht erkennt, und was den anderen angeht, an den du dich ranmachst ...“ Sie warf den Kopf in den Nacken und schnippte mit den Fingern.
„Er ist ein Nichts! Ein Dummkopf, der dazu angeheuert wurde, uns genau solche Leute wie dich vom Leib zu halten!“
„Erzähl ruhig weiter!“ Ich täuschte ein Gähnen vor, als ich Roxy mit Christian im Schlepptau heranstürmen sah. „Es ehrt mich zwar, dass du mich als eine Art Femme fatale hinstellst, die jeden Mann verführt, den sie sieht, aber in Wahrheit will ich von überhaupt niemanden irgendetwas. Ich bin nur hier, um mir mit meinen Freunden den Markt anzusehen.“
„Genau“, bestätigte Roxy. „Wir schauen uns nur auf dem Markt um und verführen niemanden, obwohl es nicht völlig ausgeschlossen ist, wenn der Richtige kommt.“
„Du bist auch keine Hilfe!“, zischte ich. „Wenn du uns entschuldigst, Tanya, wir gehen dann mal wieder.“
„Wie sehr du dich auch bemühst, ihn für dich zu gewinnen“, knurrte sie und versperrte mir den Weg, „du wirst keinen Erfolg haben mit deinen Tricks, das sage ich dir! Ich werde Dominic mit einem Schutzzauber belegen, damit er vor dir sicher ist.“
Gut. Wenn sie stänkern wollte, dann musste sie das ohne mich tun.
„Und? Habt ihr euch in der Folterkammer amüsiert?“, fragte ich Roxy und beachtete die wütende Frau, die vor mir stand, nicht weiter.
„Unheimlich! Christian wollte Handschellen mit Pelzbesatz kaufen, aber ich habe ihm gesagt, das ist ekelhaft.“
„Die Handschellen?“
„Der Pelz.“
Ich sah Christian neugierig an. Er schenkte mir ein warmes Lächeln. „Ich dachte, es könnte gewissen Erfahrungen eine neue Intensität verleihen.“
Wer hätte das gedacht? Ich wollte gerade darüber nachdenken, wie tief Christians stille Wasser waren, da machte Tanya mich darauf aufmerksam, dass sie nicht gern ignoriert wurde.
„Du wirst dir nicht einfach so verdrücken! Ich lasse mir nicht wie eine lästige Insekt verscheuchen!“ Sie versetzte mir einen Stoß gegen die Schulter. Roxy pfiff leise und fasste mich am Arm. Ich hätte Tanya am liebsten vors Schienbein getreten, hielt mich aber zurück. Ich würde mich nicht von ihr provozieren lassen.
„Ich rede und du hörst! Dein Plan, dich bei uns auf dem Markt als Expertin von Runensteinen einzuschleichen, geht nicht. Du hast es nämlich nicht drauf, ganz egal, wie wichtig du dich hier aufspielst!“
Ich runzelte irritiert die Stirn, doch dann zuckte ich mit den Schultern. Tanya war ganz offensichtlich nicht nur besessen von Dominic und litt unter der Wahnvorstellung, ich würde irgendeinen Plan aushecken, sondern sie verlor anscheinend auch noch ihre Sprachkompetenz, wenn sie wütend war.
„Du bist ein Nichts, du bedeutest Dominic gar nichts! Du wirst nicht Erfolg haben!“
Ich wollte gehen. Das wollte ich wirklich. Lächelnd sagte ich: „Du wiederholst dich. Es war nett, mit dir zu reden, Tanya, wirklich. Lass dir von niemandem etwas anderes sagen.“ Dann hakte ich mich bei Roxy unter und wandte mich zum Gehen, aber Tanya ließ mich nicht weg.
„Salope!“, rief sie und bewies damit, dass sie wenigstens die französische Gossensprache ganz ausgezeichnet beherrschte. „Hau nur ab, gut so! Deine mieser Versuch, Dominic auf dir aufmerksam zu machen, ist danebengegangen. Du hast nämlich kein Talent für zum Wahrsagen. Dominic nur nimmt Leute, die echt was können, keine Poser. Verschwinde in deine Hotel und denk darauf nach, wer heute Abend gesiegt hat!“
„Poser? Das musst du gerade sagen“, entgegnete ich langsam und drehte mich um. In dem Moment marschierte Roxy auch schon auf Tanya zu. Ihre Augen funkelten vor Empörung. Ich versuchte, sie an der Jacke festzuhalten, aber sie riss sich los.
„Willst du damit sagen, dass meine Freundin sich an Dominic ranmacht? Da irrst du dich nämlich gewaltig, Schwester! Er ist nur ein Idiot, ein blöder alter Idiot! Und weißt du was? Ich denke das auch! Also spar dir deine Sprüche, sonst stopfe ich dir das Maul!“
„Roxy, hör auf! Begib dich doch nicht auf ihr Niveau!“
„Du bist genauso scheiße wie die“, fuhr Tanya Roxy an und ballte die Fäuste.
„Du wünscht dich doch auch, dass Dominic ein Auge auf dich werft, aber das wird nicht passieren werden. Ich belege euch beide mit eine Bann!“
Roxy schnaubte entrüstet und verstand Tanya absichtlich falsch. „Was will ich denn mit seinem Auge? Du bist verrückt, Frau, weißt du das? Und noch etwas: Beleidige meine Freundin nicht! Sie kennt sich mit Runensteinen sehr gut aus, was man von dir mit Sicherheit nicht sagen kann! Und wenn du nicht so megadämlich wärst, würdest du sie auf Knien anflehen, euch auszuhelfen.“
„Roxy“, sagte ich beschwichtigend, denn mein Unbehagen wuchs. Christian tauchte neben mir auf und starrte Tanya derart durchdringend an, dass ich ganz kribbelig wurde.
„Ich würde lieber sterben als diese vache auf dem Markt zu haben“, knurrte sie.
Kuh? Sie hatte mich eine Kuh genannt? Na gut! Ich kramte fieberhaft in meinem Gedächtnis nach französischen Vulgarismen. Das Übelste, was mir einfiel, war der Satz, dass ihr Vokabular übler war als das einer Fischverkäuferin. Zur Not würde das gehen.
„Gut! Ich würde es nämlich nicht mal in Erwägung ziehen, in deiner Nähe zu arbeiten!“, sagte ich und baute mich neben Roxy auf.
„La putain de ta mère!,“ brüllte Tanya mich an.
„Das zahle ich dir heim, Schätzchen!,“ entgegnete ich. Ihre ständigen Beschimpfungen, ganz zu schweigen von der Beleidigung meiner Mutter, hatten mich so aufgebracht, dass ich bereit war, mich mit ihr zu prügeln.
„Sollen eure Streitereien ein fester Bestandteil der Abendunterhaltung werden?“, fragte jemand von hinten. „Wenn ja, dann wäre es schön, wenn ihr mir das sagt. Vor der Zauberschau und nach der Dichterlesung gibt es noch eine Lücke im Programm, die dafür geeignet wäre. Vielleicht könnten wir auch Wetten auf den Sieger anbieten.“
Arielle war direkt hinter Raphael, der um die Ecke eilte. Mein Herz machte einen eher unangenehmen kleinen Flickflack, als ich ihn erblickte, und mich überkam urplötzlich ein gewaltiges Verlangen. Ich wollte mich an ihn schmiegen, ihn riechen, meine Hände unter sein Hemd und über seine Brust gleiten lassen. Der Wunsch, ihn zu berühren, war so groß, dass ich tatsächlich zwei Schritte auf ihn zu machte, bevor ich mir ins Bewusstsein rief, dass es momentan weitaus wichtigere Dinge gab als meine Begierden. Mir fiel zwar gerade nicht ein, was das sein könnte, aber ich war ganz sicher, dass da noch etwas Wichtiges war.
Tanya begann augenblicklich in einer Sprache auf Raphael einzureden, die ich nicht verstand, wobei sie auf mich zeigte und mich zweifelsohne diffamierte - mich und meine Vorfahren und vermutlich auch meine Nachkommen. Ich sah ihm in die Augen und lächelte entschuldigend, nach dem Motto: Was sollte ich machen, ich habe hier einfach nur gestanden und dann kam sie und hat den Streit vom Zaun gebrochen, ich kann wirklich nichts dafür! Raphael zog eine Augenbraue hoch und sein Blick wurde heiß, verführerisch und hypnotisierend. Dabei verspürte ich erneut das Verlangen, ihn zu berühren und alle möglichen Dinge zu tun, die mit ziemlicher Sicherheit - nicht nur - seine Augenbrauen in Bewegung bringen würden.
„Jetzt reicht's!“, sagte Raphael und hob die Hand, um Tanyas giftigen Redefluss zu stoppen. „So langsam erregt ihr die Aufmerksamkeit der Besucher, und bestimmt nicht auf die Art, die Dominic gefällt. Warum bist du nicht an deinem Stand?“
„Ihr sind die Fledermaushoden und Hasenanusse ausgegangen“, warf ich ein.
Raphaels Mundwinkel zuckten und ich bekam augenblicklich weiche Knie.
Ich wollte gerade alle Zurückhaltung vergessen und mich auf ihn stürzen, als mir plötzlich in den Sinn kam, dass er mich manipulierte. Er spielte meinem Verstand Streiche, reizte mich aus der Ferne und verführte mich, indem er mithilfe seines Vampirtricks in mein Bewusstsein eindrang. Das konnte ich mir verdammt noch mal nicht gefallen lassen! Die Tatsache, dass der einzige Kerl, der mir gefiel, ein seelenloser Untoter war, der im Dunkeln lebte und unorthodoxen Getränken zugetan war, hätte ich ja vielleicht noch akzeptiert, aber dass er einfach so in meinen Kopf hereinspazierte und es so aussehen ließ, als sei ich diejenige, die auf ihn scharf wäre, würde ich auf keinen Fall dulden. Nie und nimmer!
Wenn er mich verführen wollte, musste er es schon auf die altmodische Art tun.
„Heißt es Anusse oder Ani?“ Roxy sah mich fragend an.
„Man sagt doch Oktopi, nicht wahr? Müsste dann die Mehrzahl von einem Hasenanus nicht Ani sein?“
„Mir ist gar nichts ausgegangen!“, wetterte Tanya.
„Ich wollte mal bei Arielle sehen und fand diese bösartige Frau, die mit angelesenem Halbwissen protzt!“
„Gute Frage“, sagte ich zu Roxy und genoss den wütenden Blick, den Tanya uns zuwarf. Ich sah Christian an. „Was meinst du, Anusse oder Ani?“
Er wollte gerade etwas sagen, da brachte Tanya ihn mit einem markerschütternden Schrei aus dem Konzept. „Du machst dich über mir lustig! Hast du gesehen, wie sie mich spottet? Das lasse ich nicht zu! Ich bestehe daran, dass du sie auf der Stelle von hier wegschaffst!“
„Nein“, sagte Raphael und nahm sie mit zusammengekniffenen Augen ins Visier. „Ich schlage vor, du verschwindest an deinen Stand und bemühst dich, nicht mehr mit ihr zu reden.“ Ich sah Tanya selbstgefällig an, bis Raphael sich mir zuwandte. „Und es wäre hilfreich, wenn du dich von den Marktleuten fernhältst, die einen Groll auf dich haben!“
„Vielleicht sollten wir einfach zum nächsten Stand gehen“, schlug Christian vor, aber bevor wir uns in Bewegung setzen konnten, drang eine schmierige Stimme an unser Ohr.
„Einen Groll? Jemand hat einen Groll auf mon ange? Das kann ich nicht glauben! Wer könnte denn etwas gegen Joy haben, die doch gerade erst mein Herz erobert hat?“
Ich verdrehte die Augen, als Dominic mit einem breiten Grinsen im Gesicht zwischen Christian und Roxy auftauchte. Ihm folgte ein kleinerer dunkelhaariger Mann mit den ausdruckslosesten, kältesten grauen Augen, die ich je gesehen hatte. Ich musterte ihn neugierig, bis er seinen gruseligen Serienkillerblick auf mich richtete.
„Dominic!“ Tanya packte Dominic am Arm und blickte ihn mit einer solchen Leichenbittermiene an, dass es mich grauste. „Wie kannst du mir so etwas antun? Wie kannst du solche Dinge vor dieser vache sagen?“
„Wisst ihr“, sagte ich zu niemand Bestimmtem, „ich bin es allmählich leid, eine Kuh genannt zu werden.“
Raphael zog beide Augenbrauen hoch und bedachte mich mit einem Blick, der die Runzeln aus einer Dörrpflaume gedämpft hätte. Ich hatte größte Lust, ihm auf der Stelle die Kleider vom Leib zu reißen, doch dann fiel mir ein, dass er mir diese Idee bestimmt wieder in den Kopf gepflanzt hatte. Ich sah ihn wütend an.
„Du bist böse auf mich“, fuhr Tanya unbeirrt fort.
„Du kannst nicht ernst meinen, was du da sagst. Ich verzeihe dir dieses eine Mal, aber du darfst auf ihre Versuche, dein Interesse zu erregen, nicht eingehen!“
Erregen - was für ein schönes Wort! Ich sah Raphael an. Er sah mich an. Einige Teile von mir, die der Öffentlichkeit vorenthalten bleiben, holten ihre Pompoms hervor und brachen in Hurrarufe aus.
„Du beginnst mich zu langweilen, ma petite“, entgegnete Dominic und löste seinen Arm aus Tanyas Umklammerung. Dann drehte er sich zu seinem Begleiter um. „Da ich keine Verwendung mehr für sie habe, gehört sie dir, wenn du willst, Milos.“
Das war also Dominics Geschäftspartner? Ich speicherte diese Information ab, während ich einen Schritt auf Raphael zuging. Seine Muskeln spannten sich an, als wollte er mir entgegenkommen, aber das gestattete er sich nicht. Ich stemmte die Hände in die Hüften und befahl meinen Beinen, stehen zu bleiben.
„Alles in Ordnung?“, fragte Christian mich leise.
„Mir geht es gut“, flüsterte ich zurück. „Ich habe nur ein kleines Kontrollproblem mit einem Vampir, der versucht, mich rumzukriegen. Kein Grund zur Sorge!“
Er wirkte irritiert, aber ich lächelte ihn beruhigend an.
„Was andere ausrangieren, nehme ich grundsätzlich nicht mehr, nicht einmal von dir, mein Bruder.“ Milos musterte Tanya geringschätzig. „Sie interessiert mich nicht.“
„Connard!“, fuhr Tanya ihn an und stürzte sich auf Dominic. Milos wirkte gänzlich unbeeindruckt. Er gab seinen Gemütszustand nicht im Geringsten zu erkennen und sah nicht einmal gelangweilt aus. Er war der gleichgültigste, beherrschteste Mensch, den ich je gesehen hatte. Raphael setzte zwar dann und wann eine unbeteiligte Miene auf, aber das war nur eine Maske, hinter der er seine Gefühle verbarg.
Unwillkürlich schaute ich wieder zu ihm hin und bewunderte sein herrliches Profil.
„Stimmt was nicht?“, zischte Roxy mir ins Ohr. „Du siehst plötzlich wieder so komisch aus.“
„Es ist Raphael“, raunte ich ihr zu. „Er macht irgendwas mit mir. Von Gehirn zu Gehirn. Er ist böse.“
Roxy bekam große Augen.
„So darfst du mich nicht bestrafen!“, schrie Tanya Dominic an und hielt ihn an seinem Umhang fest. Er knurrte sie in einer anderen Sprache an und entriss ihr wütend das Cape.
„Du meinst, er will sich mit dir verbinden? Jetzt? In diesem Moment?“, fragte Roxy leise und taxierte Raphael, während sie sich gleichzeitig bemühte, die Szene mit den zwei Männern und Tanya im Auge zu behalten. „Was tut er denn genau?“
Fest entschlossen, mich nicht von Raphael beeinflussen zu lassen, riss ich meinen Blick von ihm los und konzentrierte mich auf Tanyas gequältes Gesicht. Obwohl sie versucht hatte, mich die Treppe hinunterzustürzen, verspürte ich einen Anflug von Mitleid mit ihr, weil Dominic sie so grausam behandelte. Okay, einen sehr kleinen Anflug.
„Was tuschelt ihr beiden denn die ganze Zeit?“
Christian beugte sich zu uns vor.
„Es ist wegen Joy. Ihr Vampir macht etwas mit ihrem Kopf.“
„Wirklich?“, fragte er und sah mir prüfend ins Gesicht. „Sie sieht gar nicht verändert aus. Was macht er denn mit ihr?“
„Das ist alles ihre Schuld!“, kreischte Tanya, ohne zu merken, dass immer mehr Leute zu uns herübersahen. Sie fuhr herum und zeigte aufgebracht auf mich. „Sie hat dich verhext! Du bist verloren, wenn ich das nicht rückgängig mache. Nur ich habe die Macht, dich vor ihr zu retten!“
Ich hob beschwörend die Hände. „Hokus, pokus, fidibus!“
Tanya wurde knallrot vor Zorn.
„Sie hat wieder diese Visionen, nicht wahr, Joy?“
Roxy zupfte mich am Ärmel.
„Nein, diesmal ist es anders“, zischte ich, aber ich wollte nicht zugeben, dass Raphael mich mit ein paar schmutzigen Gedanken, die er mir in den Kopf setzte, derart beeinflussen konnte. Das war mir zu peinlich.
„Ma petite, du gehst zu weit! Mon ange hat nichts Böses in der Seele. Nur wem das Böse nicht fremd ist, kann hexen.“
„Der Spruch trägt auch nicht zu ihrer Beruhigung bei“, meinte Raphael, während ich gleichzeitig rief: „Ooooh, ein Tiefschlag, Dominic!“
Dominic lächelte mich nur an und machte eine übertriebene Verbeugung.
Raphael schüttelte den Kopf und hob resignierend die Hände, dann ging er ein paar Schritte auf mich zu. Ich lächelte triumphierend. Was er konnte, konnte ich schon lange! Ich wollte, dass er zu mir kam, und genau das tat er auch.
„Wie anders? Was macht er denn?“, flüsterte Roxy mir ins Ohr. Wegen der wütenden Schreie, die Tanya in regelmäßigen Abständen ausstieß, während sie Dominic für seine gemeine Bemerkung zur Rechenschaft zog, konnte ich sie jedoch kaum verstehen.
„Joy? Was macht Raphael denn?“
„Er verführt mich“, entgegnete ich, trat einen Schritt vor und schenkte ihm einen gefühlvollen Blick. Ich fand, er hatte eine kleine Belohnung verdient: Immerhin hatte er nachgegeben und war auf mich zugekommen, als er erkannte, dass ich einen eisernen Willen hatte und mich nicht von seinen telepathischen Verführungskünsten beeindrucken ließ. Seine bernsteinfarbenen Augen wurden riesengroß. Ich holte tief Luft und nahm den herrlichen Geruch in mich auf, der ihn umgab. Die Cheerleader in meinen niederen Regionen rasteten vollends aus.
Mit einem letzten Blick in meine Richtung, der mir das Gefühl gab, dass sich sämtliche Knochen in meinem Körper auflösten, drehte Raphael sich wieder zu Dominic um. Tanya kniete vor ihm und flehte ihn an, ihr zuzuhören.
„Wenn wir abendliches Gezanke als neue Attraktion ins Programm nehmen“, sagte Raphael zu ihm, „solltest du dir überlegen, das Eintrittsgeld zu erhöhen.“ Er wies mit dem Kinn auf die Leute, die sich hinter Dominic und Milos versammelt hatten. Es wurde höchste Zeit, zu verschwinden, doch als ich mich zu Roxy und Christian umdrehte, war Christian plötzlich verschwunden.
Dominic erstarrte und sah Raphael hochmütig an.
„So redest du nicht über mon ange!“
Ich hatte schneller als Raphael eine Antwort parat.
„Wirst du endlich damit aufhören!“, fuhr ich Dominic an. „Ich bin kein Engel, und schon gar nicht dein Engel! Wenn ich irgendjemandes Engel bin, dann seiner!“ Mein Finger zeigte von ganz allein auf Raphael. Kaum waren die Worte über meine Lippen, schlug ich mir die Hand vor den Mund.
Raphael zog die Augenbrauen hoch und in seinem Gesicht zeigte sich grenzenlose Überraschung.
„Du bist unfair!“, schimpfte ich. „Du hast mich dazu gebracht, das zu sagen! Du bringst alle dazu zu denken, dass ich scharf auf dich bin! Ich wäre dir sehr dankbar, wenn du dich aus meinen Gedanken raushältst und aufhörst, mich zu verführen!“
„Dich zu verführen?“, fragte er und sah mich nachdenklich an. „Ich verführe dich?“
„Ja, das tust du und du brauchst gar nicht so unschuldig zu gucken. Wir wissen beide, wer du bist und was du treibst, also kannst du dir diesen begriffsstutzigen Gesichtsausdruck sparen und aufhören, mich mental zu beeinflussen! Wenn du mich in dein Bett locken willst, dann musst du das schon richtig machen! Hast du das verstanden?“
„Natürlich. Vielleicht könntest du mir sagen, wann und wie du von mir verführt werden willst? Es wäre mir sehr unangenehm, dich zu einem ungünstigen Zeitpunkt zu erwischen oder auf eine Art vorzugehen, die nicht deine ausdrückliche Zustimmung findet.“
„Mon ange“ Dominic wandte sich von Tanya ab und ergriff meine Hand. „Du bist aufgebracht und weißt in der Hitze des Gefechts nicht, was du sagst. Aber erklär mir, was hat es mit den Runensteinen auf sich? Was hat Tanya da erzählt?“ Er drehte meine Hand um und drückte mir einen feuchten Kuss in die Innenfläche. Ich machte eine Faust.
„Wenn du was auf die Nase haben willst, mein Freund, mach nur so weiter!“
Dominic lachte. „Ist sie nicht entzückend?“, fragte er Milos. „Beneidest du mich nicht um das Glück, sie gefunden zu haben?“
„Himmelherrgott noch mal! Ich haue ihm gleich eins in die ...“ Ich holte aus, überlegte es mir jedoch im letzten Moment anders, aber da hatte Raphael meine Hand auch schon gepackt und umschloss sie ganz fest mit seiner. Ich erschauderte angesichts der Berührung und versuchte, die Cheerleadertruppe in meiner Lendengegend daran zu hindern, Rückwärtssalti zu schlagen.
„Sie hat Temperament. Sie wird mir eine großartige Gefährtin sein“, schwärmte Dominic weiter. Dabei hielt er Tanya mit einer Hand in Schach, die immer noch vor ihm im Dreck hockte, auf seine Beine einschlug und wüste Beschimpfungen ausstieß.
„Das hat mit Temperament nichts zu tun, das sind Blähungen“, meldete Roxy sich zu Wort und verschränkte die Arme vor der Brust. Ich sah sie wütend an.
In diesem Moment hätte ich gut auf ihre Hilfe verzichten können. „Und die kann man von deinem Geschwätz ja auch wirklich kriegen, das muss ich schon sagen!“
„Du wirst für mich die Runen deuten“, sagte Dominic und ließ meine Hand erst los, als ich ruckartig daran zog und ihn ins Stolpern brachte. „Nein, nein!“
Er hob die Hände, als er sah, dass ich protestieren wollte. „Du musst! Hast du nicht gehört, was Tanya gesagt hat? Sie hat dich beleidigt. Dafür musst du dich um deiner Ehre willen rächen!“
Ich zog Roxy am Arm. „Nein, danke! Wir sind dann mal weg“, entgegnete ich.
„Wir sehen uns später“, raunte ich Raphael im Vorbeigehen zu.
Er stutzte. „Tatsächlich?“
Dominic rief mir etwas hinterher und Tanya schrie auf ihn ein. Ich ignorierte die beiden und schaute in die hinreißendsten Augen, die ich je gesehen hatte.
„Ich denke doch. Wir haben noch etwas zu klären, nicht wahr?“
Er schaute auf meine Lippen und plötzlich verspürte ich den Wunsch, an ihnen zu knabbern.
„Ja“, entgegnete er und blickte mich gefühlvoll an.
Mir stockte der Atem, als er die Hand ausstreckte und mir zärtlich eine Haarsträhne aus dem Gesicht strich. „Das glaube ich auch.“
„Gut“, krächzte ich und schluckte. Mehr brachte ich nicht heraus, denn plötzlich war ich nur noch ein Haufen kribbelnder Körperteile, die auf der Stelle mit allen seinen Körperteilen Bekanntschaft machen wollten. Ich versuchte, eine mentale Barriere zwischen uns zu errichten, aber das nützte nichts. Die Cheerleader in meiner Leistengegend hatten bereits eine Spendenaktion gestartet, um das Geld für eine Exkursion in die seine zusammenzubekommen.
„Hey! Ich will noch nicht gehen! Nur weil du dir den Zorn einer Hexe zugezogen hast und ein Irrer dich zu seiner Gefährtin machen will - ganz zu schweigen von dem Vampir, der es nicht erwarten kann, dich zu beißen -, nur deswegen muss ich doch nicht zurück ins Hotel gehen und Däumchen drehen! Ich will da sein, wo die Action ist!“
Ich ließ Roxy los. „Kein Problem. Dann such doch gleich nach Christian und bitte ihn um Entschuldigung dafür, wie der Abend gelaufen ist. Der Arme muss ja glauben, dass hier alle verrückt sind.“
„Zumindest bei einigen ist er bestimmt davon überzeugt“, murmelte Raphael.
Ich sah ihn stirnrunzelnd an, nur für den Fall, dass er mich meinte. Sprach ein Vampir etwa so von seiner Auserwählten?
„Bis dann.“ Ich nickte ihm zu.
Er deutete eine Verbeugung an und verzog seine markanten männlichen Lippen zu einem kleinen schiefen Grinsen.
Ich ignorierte Dominics Mahnung, gefälligst dort zu bleiben, wo ich war, und machte mich aus dem Staub. Als ich mich noch einmal umdrehte, hatte Raphael Dominic gepackt und redete eindringlich auf ihn ein.
Ich lief zurück zum Hotel und mir war ein bisschen flau wegen des dunklen Versprechens, dass ich in Raphaels Augen gelesen hatte.